Vertreibung
Ein einfaches, leicht verständliches Bild: „Ein
Stuhl, der aus einem Haus hinausgeworfen wurde“.
Dieses Denkmal steht für das Thema Vertreibung allgemein. Überall
auf der Welt wurden und werden Menschen aus ihrer Heimat vertrieben:
Hugenotten aus Frankreich; Deutsche aus Polen; Juden aus ganz Europa;
.... und letztendlich verweist das Thema auf die Anfänge der
Menschheitsgeschichte, auf die Vertreibung aus dem Paradies, aus
dem Ur- und Sehnsuchtsbild von Heimat.
Der Stuhl versinnbildlicht die Person, die vertrieben wurde. Es
ist der Stuhl dieses Mannes, dieser Frau. Der Stuhl, auf der diese
Person gewöhnlich sitzt. Ihr Platz. Ihr Platz am Tisch. Ihr
Platz im Heim. Ihre Heimat. Das ganze bisherige Leben - zur Tür
hinausgeworfen. Das Thema wird direkt und unmittelbar verständlich
gemacht. Ein starkes Bild und eine einfache Umsetzung, die Voraussetzung
war, damit die Skulptur von Lehrlingen problemlos und kostengünstig
hergestellt werden konnte: eine einfache Stahl-konstruktion unter
Verwendung handelsüblicher Profile auf einem einfachen Betonsockel.
Hier, an diesem Ort bezieht sich das Denkmal auf den 50sten Jahrestag
der Vertreibung von 124 Familien bzw. 492 Personen aus dem Altkreis
Meiningen.
5. Juni 1952: In den frühen
Morgenstunden wurden sie aus dem Schlaf gejagt. Ein LKW fuhr vor
und unbekannte Männer luden den gesamten Hausrat auf. Ein Polizist
eskortierte sie zum Rathaus. Dort erfuhren sie, dass sie Haus und
Hof in wenigen Stunden verlassen müssten. Das alles ohne eine
schriftliche Verfügung, ohne ein Gerichtsurteil, ohne die Möglichkeit,
Einspruch dagegen erheben zu können. Ihre Frage, „Warum
gerade ich“ blieb genauso unbeantwortet, wie Ihre Frage, wohin
diese Aussiedlung geht.
Hintergrund der ersten Zwangsaussiedlungsaktion
Vor 50 Jahren war die Absicht der SED-Führung, das
Grenzgebiet zur Bundesrepublik „politisch störfrei" zu machen, nachdem
die Blockfreiheit eines gemeinsamen Deutschland nicht zu erreichen
war. Die Regierung Grothewohl erließ am 26. Mai 1952 die „Verordnung
über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen
Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands".
Grundlage für den unmittelbaren Vollzug der Zwangsaussiedlung am
5./6. Juni 1952 war der Geheimbefehl Nr. 28/52 des Ministers des
Innern der DDR, Kurt Maron, vom 26. Mai 1952.
Danach waren aus der Sperrzone auszuweisen:
a) Ausländer und Staatenlose
b) Personen, die polizeilich nicht gemeldet waren
c) Personen, die kriminelle Handlungen begangen hatten und bei denen
zu vermuten war, dass sie erneut straffällig wurden.
Alle diese Klassifizierungen trafen auf die tatsächlich Ausgesiedelten
nicht zu. Viele von ihnen hatten des öfteren ihre
Verwandten im Westen besucht, doch das hatten eigentlich alle getan.
Der eine oder andere hatte auch Leute über die Grenze geführt. Die
Behörden wussten davon, ohne dies nachweisen zu können. Einige junge
Burschen waren erwischt oder angezeigt worden, weil sie über die
Grenze hinweg getauscht und gehandelt hatten. Das war alles, doch
es reichte, um diese und ihre Familien auszu-siedeln. Den allermeisten,
Familienvätern und Hausfrauen, konnte man noch nicht einmal solche
Grenz-gänge nachsagen. Für diese, dem Regime unliebsamen Personen
gab es noch einen Gummiparagrafen im Geheimbefehl. Demnach waren
auch Personen auszuweisen, die wegen ihrer Stellung in und zu der
Gesellschaft eine Gefährdung der antifaschistisch-demokratischen
Ordnung darstellen.
Wer legte fest, wer aussiedeln mußte und wer
bleiben durfte?
In den Volkspolizeiämtern waren Kommissionen zu bilden,
die sich aus je einem Angehörigen der Abteilungen Pass- und Meldewesen,
Kriminalabteilung und Sicherheit zusammenzusetzen hatten. Diese
Kommission prüfte die Unterlagen und beschloss, ob eine Ausweisung
vorgeschlagen werden sollte. Nach Bestätigung durch die übergeordnete
Kreiskommission wurde den Betroffenen die Ausweisung von den zuständigen
Dienststellen der Volkspolizei mündlich mitgeteilt. Die Gemeinden
waren also höchstens durch Zuträger an der Aktion beteiligt. Ausgesiedelt
wurden nun auch Menschen, die durch selbstbewusstes Auftreten, durch
nonkonformes Denken oder durch das Hören von Westsendern aufgefallen
waren. Menschen, die Verwandte in der BRD hatten, die Post oder
Pakete von dort erhielten, von denen ein Familienmitglied in den
Westen geflüchtet war, oder die irgendwann irgend etwas Unbedachtes
gegen die DDR geäußert hatten, waren bevorzugte Opfer. Aber auch
erfolgreiche Bauern, bei denen voraussehbar war, dass sie bei den
anlaufenden Zu-sammenschlüssen Schwierigkeiten machen würden, waren
Opfer von Aussiedlungsmaßnahmen. Gemeinsam war ihnen, dass sie als
Opfer von Verwaltungsentscheidungen besonderer Willkür und Rechtlosigkeit
ausgesetzt waren. Es gab ja weder Gerichtsbeschlüsse noch schriftliche
Begründungen. Entsprechend zwecklos waren auch Einsprüche oder Beschwerden.
Sie wurden mit vorgedruckten Schreiben abgefertigt.
Statistik
Ausgesiedelt wurden 1952:
an der Grenze der DDR 2347 Familien mit 8331 Personen in ganz Thüringen
960 Familien mit 3547 Personen
In den Westen flohen:
aus Thüringen 1693 Personen (47,7 %) im ehemaligen Bezirk Suhl 1570
Personen
Im Landkreis Meiningen wurden ausgesiedelt:
Ort |
Familien |
Personen |
Ort |
Familien |
Personen |
Berkach |
21 |
69 |
Henneberg |
9 |
31 |
Bettenhausen |
15 |
59 |
Hermannsfeld |
16 |
57 |
Einödhausen |
10 |
43 |
Nordheim |
15 |
69 |
OT Unterharles |
1 |
5 |
Schwickershausen |
8 |
37 |
Haselbach |
6 |
22 |
Stedtlingen |
9 |
34 |
Helmershausen |
10 |
44 |
Wolmuthausen |
4 |
22 |
Viele Bürger Thüringens entzogen
sich durch die Flucht in die Bundesrepublik der drohenden Ausweisung
in das Innere der DDR.
Noch heute fragt man sich, warum andere Orte an der Grenze von dieser
Aussiedlung verschont blieben, wie Behrungen, Gerthausen, Schafhausen,
Melpers, Frankenheim, Oberweid und Unterweid. Von den damals im
Sperrgebiet des Kreises Meiningen lebenden 6186 Bewohnern wurden
7,9 % der Bevöl-kerung zwangsausgesiedelt. Das war die höchste
Quote von allen Grenzkreisen der DDR.
3. Oktober 1961: in
den Morgenstunden dieses Tages waren im Kreis Meiningen noch einmal
147 Personen von den Zwangsaussiedlungsmaßnahmen betroffen,
darunter 51 Kinder. Insgesamt betraf diese Aktion 24 Gemeinden im
Kreisgebiet. Besonders betroffen waren die Gemeinden Frankenheim
mit 23 Personen und die Gemeinde Birx mit 14 Personen. Die Zielregionen
der Umsiedlung befanden sich vor allem in den Bezirken Halle und
Leipzig.
Nun war die Ruhe im Grenzgebiet der DDR
weitgehend hergestellt. Die immer wieder wiederholte Drohung mit
Aussiedlung tat ihre Wirkung.
Was auf der Strecke blieb, war die Glaubwürdigkeit des Staates
DDR. Mit dieser Maßnahme hatte die DDR ihre eigene Verfassung
in mehreren Punkten gebrochen, die persönliche Freiheit und
die Unverletzlichkeit der Wohnung waren mit Füßen getreten
worden.
Der Sicherheit im Grenzgebiet war die Glaubwürdigkeit der Rechtsstaatlichkeit
der DDR erstmals geopfert worden. An dieser Glaubwürdigkeitslücke
zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist letztlich die DDR mit zerbrochen.
Anmerkung: Es gab
eine Zeit, da wurden Bürger und ihre Familien aus Münnerstadt,
Bad Neustadt und Mellrichstadt aus ihrer Heimat ausgesiedelt. Allein
aus Neustadt wurden damals 90 Familien ausgesiedelt. Davon zogen
20 nach Schweinfurt, 13 nach Meiningen, 11 nach Ostheim v. d. Rhön
und 9 nach Hildburghausen. In Münnerstadt verließen 9
von 12 Ratsschöffen und 23 von 24 Verordneten ihre Heimat und
flüchteten in den Osten. Es war Fürstbischof Julius Echter
von Mespelbrunn, der sein Bistum Würzburg 1585 frei von evangelischen
Mitbürgern machte. Wir sollten heute mit den Fingern nicht
nur auf die in der DDR zeigen, sondern alle anklagen, die früher
wie heute ihren Mitbürgern gegen jedes Menschenrecht den Stuhl
vor die Tür setzen, - deren Stuhl aus deren Haus werfen.
20. 09. 2002 Einweihung des Denkmals
Vertreibung
Künstler: Herbert Fell Niederlauer/ Berlin
Stahlarbeiten: Ausbildungszentrum Kloster Rohr Betonarbeiten: Ausbildungszentrum Walldorf
Auftraggeber: Landrat Ralf Luther, Landratsamt Schmalkalden-Meiningen
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